Der Mittel Recht: Die Zeitqualität
Production — Main Index
Von der kreativen Prokrastination.
Rules are ridiculous in something creative. – Andrew Scheps
Die allgemeine Ansicht zur Prokrastination ist die, daß der davon befallene alles aufschiebt, statt gleich zu machen; alles auf die lange Bank schiebt; alles auf morgen verlegt. In meinem Fall gestatte ich mir das kreative, regellose und zügellos ausgelebte Aufschieben auf ein vernüftiges (Betonung liegt auf vernünftiges) Datum. Die Dinge müssen liegen bleiben, bis sie an die Reihe kommen. Das sinnlose Gehetze, das ewige «Schnell» hat keinen Sinn, hat ausgedient. Man legt einen Schalter um. Diesen Schalter legt man nicht schnell um. Alle Handlungen bewegen sich in ihrem vernüftigen und zugemessenen Zeitmaß. Der höchste Prozentsatz an Pfusch entsteht im Huschhusch. Darum lasse ich seit letzte Weihnachten den Saustall Saustall sein und kümmere mich um ein aktuelles Area. Und dieser Bereich bekommt die volle Zuwendung. Danach steht alles auf diesem Gebiet mit Hand und Fuß da. Kreativste Schlamperei, multieffizient. Und ist gar nicht auf meinem Mist gewachsen, ich hab's im Spiegel gelesen.
Dann tauchen unweigerlich zwei Begriffe auf: Zeitqualität und Hingabe. Ich nahm mir den oberen Teil des sogenannten «rechten Racks» vor (so ist es am Schalter angeschrieben). Das Rack wurde neu eingerichtet, besser verkabelt und die Komponenten so aufgereiht, daß sie eine sinnvole und auch schöne Reihe bildeten. Das Auge hört mit.
Ein Suprem Guitar/Baß-Top. Der wollte mal spielen, dann wieder nicht. Also ging er zu Ronny Arber und blieb ein drei Monate bei ihm. Dann kam er wieder und war wie verwandelt. Jetzt macht er dicken und knackigen Sound, sogar mit Vibrato. Die 450 Franken Reparaturkosten habe ich mit Freudensprung bezahlt.
|
|
Der Nachbau eines alten amerikanischen
Miltär-Kompressors, der sagenumwobene AM-864U.
|
|
Er sah wunderbar aus, ein Weihnachtsmuß. Es ranken sich viele Sagen um den
AM-864U Federal Compressor. Neil Youngs alter Produzent gebrauchte sowas und nicht nur er. Bis heute greift man auf seinen Klang zurück.
Das hier ist ein Nachbau eines Patrick Grenham aus New York. Aber irgendwas war faul. Eigentlich sollte er schön komprimieren, was er auch tat, versetzte aber dem Output mit einem dicken Brumm. Der Fachmann mußte her. Walter war ratlos, Toni konnte nur einen Teil des Brumms entfernen. Der Federal ging zum Ronny Arber. Und blieb dort ein halbes Jahr. Wenn Ronnie etwas in die Finger bekommt, dann braucht es lange, lange. Aber wenn es dann gemacht ist, dann ist das Gerät wie neu. Die Zeitqualität spricht: Die Zeit heilt Wunden.
Der Federal weist vier große Bakellit-Drehregler auf: Gain, Slope, Release und Threshold. Ein Rad greift ins andere. Es ist einmal mehr dieses Instrument des Geheimnisvollen: Ein Vintage-Kompressor. Geheimnisvoll wärmend. Zeitqualiät: Der Himmel der Crooner wird enträtselt.
Ein Philips aus Wien.
Im Internet findet sich zu eine Anleitung, die Kopie der Originalanleitung für die amerikanischen Soldaten, die die Maschine gebrauchten. Ja, es ist ein Kompressor für das, was schlußendlich in den militärischen Äther geschickt wird. Ein Kapitel widmet sich den Methoden, den Kompressor zu zerstören, damit der nicht in Feindeshand gerät, falls man ihn nicht in Sicherheit bringen kann. Die Vorschläge reichen von Zerhacken bis zum Gebrauch von Sprengstoff.
Vor vielen Jahren hatte ich diesen Philips Röhren-Mikrophonvorverstärker im
Flash Music in Wien erstanden. Der immer nette Verkäufer staunte nicht schlecht über meine Begeisterung, sowas überhaupt irgendwo und dazu noch lauffähig anzutreffen und sprach: «I hob ma docht, das kauft nie jemand und Du brichst in Begeisterung aus.» Es bricht das goldene Wiener Lachen aus. Das absonderliche an dem Preamp ist, daß seine Anschlüsse auf Basis von Stromsteckern gemacht sind, also weder Chinch, noch Klinke, noch XLR. Walter hat mir an den anderen Kabelenden XLR und Klinke gemacht. Nun, mit einem dynamischen Mikrophon hat es etwas mühe (Sennheiser MD 241), verstärkt sehr schön, trägt aber auch eine Portion Grundlärm bei. Darum das Symetrix Gate untendrunter. Und den Attack ruhig ein wenig verzögert, damit's nicht so abrupt einsetzt. Die Zeitqualität spricht: Jugendklang.
Das Beste aus den Achzigerjahren und Farben aus Japan
This Mortal Coil: Blood.
Selten aber doch fällt der Menschheit etwas Kluges ein. Dazu zählen die Neuveröffentlichungen vieler klassischer Aufnahmen als Schallplatte oder als HiRes Audio Download. Vor allem: Diese neuen Platten klingen so viel besser als früher, sie sind voller und haben viel mehr Baß. Alle drei Veröffentlichungen der Formation
This Mortal Coil sind neu erschienen. Sie haben auch neue Hüllen bekommen. Die Platten sind dicker, der Karton für die Hüllen ist kräftiger, das begleitende Artwork wurde neu konzipiert – luxuriöser – die Aufnahmen sind modern wuchtig abgemischt: Die Platten sind ein Hochgenuß. Das sind Schallplatten die bei mir im Regal einen Logenplatz erhalten und mir als Vorgabe dienen, wie eine Produktion daherkommen muß.
https://4ad.com/artists/thismortalcoil
Wir haben es hier nicht nur mit exzellenter Musik zu tun, die deshalb entstanden ist, weil sich die besten Musiker aus der noch jungen Gothic-Szene in lockeren Formationen zusammengetan hatte; wir erleben hier noch dazu einen Höhenflug an visueller Gestaltung. Photographien von präraffaelitischer Schönheit und die unverwechselbare Typographie dieser Zeitepoche in den 80er Jahren fügen sich zu einem Gesamten, das uns eine der Musik kongenial entsprechende Plattenhüllengestaltung beschert. Das verläßt bei mir schon den Fünfsternebereich.
***
Ich will mich hier nicht auf das beschränken, was mit Akustik zu tun hat. Es gibt zwei weitere Gestaltungsbereiche, auf die ich nicht verzichten will: Das Bild und das Wort. Das Bild sagt natürlich oft mehr als tausend Worte, deshalb habe ich immer eine Kamera oder eine Videokamera bei mir. Und in einem Kasten eine große Schachtel voller Mal- und Zeichenutensilien, die ich regelmäßig auspacke und meine Erfahrungen und Träume, mein Innen- und Außenleben auf Papier oder ein anderes Materal banne. Auch das ist eine traditionsreiche Reflexion, die noch aus der Zeit stammt, da wir jung bis klein waren und alle, die ich kannte, nur so sprühten vor Kreativität. Und auf eine geheimnisvolle Weise wurde das auch von der Welt erwidert. Es gab eine gewisse Resonanz, die doch zum Teil im Laufe der Jahrzehnte verlorenging. Dennoch: Die Feder blieb, die Tusche, die Farben, das Papier. Aus der Nikkormat wurde eine digitale Sony, und wunschgemäß sollte das eine Leica werden, aber was das alles kostet ... Aber wenn dann ein Traumgebilde auf einem dicken Blatt erscheint, dann suche ich nach einem dicken Rahmen mit einem dicken Passepartout.
Sadao Hibi – The Colors of Japan.
Und hier verschwimmen die Grenzen. Betrachtet man ein Buch wie
The Colors of Japan von Sadao Hibi, dann blättere ich durch Seiten, die ich schon fast höre. Ein solches Buch ist für mich schon fast hörbar. Auf vielerlei Art verschwimmen die Grenzen. Wir werden darauf hingewiesen, wie sehr Kunst und Kunsthandwerk – in diesem Fall die japanischen Bereiche – eng verknüpft sind. Zwar definieren wir oft die Bereiche der Kunst nach der Wahrnehmung durch die einzelnen Sinne, aber auch hier möchte ich Sehen und Hören nicht getrennt erfahren. Man spricht oft davon, daß man sich in einem Film befinde. So ist es hier: Mit dem erleben – zumindest im Buche der Farben Japans – ist es nur ein Herzschlag, bis man ebenso die Töne Japans erleben will. Oder aber man stimmt das eigene Tun auf das Gesehene ab: Ich jedenfalls möchte mein Tun so vergolden, wie die Farben hier auf den Seiten über Musashi herkommen
(oberes Bild).
Sadao Hibi – The Colors of Japan
Kodansha International – Tokyo • New York • London
ISBN 4-7700-2536-X